Primär- und Sekundärerkrankungen in der Repertorisation

Primär  oder sekundär?

Grundsätzlich jede Erkrankung/jedes Symptom kann primär oder sekundär, als Grunderkrankung oder als Folgeerkrankung auftreten. Primärerkrankungen sind oft genetisch bedingt oder durch Autoimmunreaktionen ausgelöst.

So kann Cushing sekundär als Folge eines Tumors der Hirnanhangdrüse auftreten oder primär als Störung der Hormonproduktion der Nebennierenrinde. Diabetes kann primär angeboren oder durch eine erworbene Zerstörung der Inselzellen des Pankreas bedingt sein oder sekundär als Folge eines Cushing auftreten oder als Folge einer Adipositas. Bluthochdruck kann primär als essentieller Hochdruck auftreten oder auch infolge einer Nierenerkrankung, einer Lebererkrankung oder eines Herzfehlers. Umgekehrt kann ein essentieller Hochdruck zu einer sekundären Nierenschädigung führen.

Die Sekundärerkrankung als Ausdruck der Kompensation

Für die homöopathische Therapie ist es wenig effektiv, den Fokus auf die Folgekrankheiten zu legen. Die Sekundärerkrankung ist die Folge der kompensatorischen Überlastung eines Organs oder der durch eine Pathologie fehlgeleiteten Funktion. Radiert man die Folgeerkrankung aus, nimmt man der Grunderkrankung bzw. der Pathologie ihr Ventil und fördert sie damit oder man treibt die Sekundärerkrankung weiter voran ohne an der Primärerkrankung irgendetwas geändert zu haben. Zieht eine Niereninsuffizienz einen Hochdruck nach sich, macht es überhaupt keinen Sinn, den Hochdruck auszuschalten, der die Nierenleistung aufrecht hält. Die Primärerkrankung nicht zu berücksichtigen, bedeutet, ihr durch die Unterdrückung der Sekundärerkrankung(en) Vorschub zu leisten. Auch die Behandlung einer eventuell aus dem Hochdruck resultierenden handfesten eigenen Pathologie am Herzen wie Herzinsuffizienz, Hypertrophie, Dilatation oder Klappeninsuffizienz macht isoliert keinen Sinn. Dilation und Hypertrophie sind langfristig nur zu stoppen, wenn die Anforderung an das Herz nachlässt. Womit wir wieder bei der Grunderkrankung wären.

Daraus ergeben sich folgende Forderungen für die Reperorisation:

1. Differenzierung, ob es sich jeweils um Primär- oder Sekundärerkrankung handelt
2. Lokalisation und Pathologie der Primärerkrankung feststellen
3. Umfang der Sekundärerkrankung erfassen – Funktionelle Störung oder Pathologie?

Zur Differenzierung von Primär- und Sekundärerkrankung in den Rubriken

In den Repertorien gibt es Rubriken zum betreffenden Organ, zu Beschwerden des Organs mit Unterrubriken zu Begleitbeschwerden und viele Rubriken unter Allgemeines. Der Zusammenhang von Primär- zu Sekundärkrankheit/Symptom spiegelt sich im Gebrauch von Formulierungen wie „begleitet von…“, „mit….“, „durch…“ , „….bedingt“, „gefolgt von…..“.

Hier einige willkürlich gewählte Beispiele:

  • Körperteile und Organe – Innerer Bauch – Nieren (TTB)
  • Nieren – Beschwerden der Nieren
  • Nieren – Beschwerden der Nieren – begleitet von – Hypertonie
  • Nieren – Beschwerden der Nieren – begleitet von – Diabetes
  • Abdomen – Pankreas; Beschwerden des
  • Allgemeines – Diabetes mellitus – Pankreas; durch Beschwerden des
  • Allgemeines – Diabetes mellitus – Insulinmangeldiabetes
  • Allgemeines – Familiengeschichte von – Diabetes mellitus
  • Allgemeines – Wassersucht – äußere Wassersucht – Nieren; durch Erkrankung der
  • Allgemeines – Wassersucht – Allgemeinen; im – begleitet von – Nieren;
  • Beschwerden der Allgemeines – Wassersucht – Allgemeinen; im – begleitet von – Nieren; Beschwerden der – Herzens; und Beschwerden des
  • Brust – Schwäche – Herz – begleitet von – Wassersucht
  • Brust – Herzens; Beschwerden des – begleitet von – Nieren – Beschwerden der
  • Brust – Herzens; Beschwerden des – begleitet von – Nieren – Beschwerden der – Wassersucht; und
  • Allgemeines – Wassersucht – äußere Wassersucht – Herzens; durch Erkrankungen
  • Allgemeines – Wassersucht – äußere Wassersucht – Leber; durch Erkrankung der

Schaut man in die Rubriken hinein, sieht man, dass es – was die Mittel angeht – durchaus einen Unterschied macht, ob Krankheit 1 Krankheit 2 zur Folge hat oder umgekehrt. Und ebenso macht es einen Unterschied, aus welcher Grunderkrankung eine Erkrankung/ein Symptom resultiert. Es ist also durchaus hilfreich, sich zunächst über die Entstehung/Entwicklung der Krankheit, darüber, was primär und was sekundär ist, klar zu werden. Primär- und Sekundärerkrankung können sich an unterschiedlichen Organsystemen zeigen.

Differenzierung der Pathologie

Die Differenzierung der Pathologie (Entzündung – Zubildung – Nekrose/Zerstörung) ist hilfreich, um den Stand der Erkrankung und den möglichen  Behandlungserfolg (Remission – Palliation) einzuschätzen und ein Mittel zu wählen, das diese Pathologie auch abdeckt. Ein gut geprüftes und in der Klinik eingesetztes Mittel, das nur Entzündung hervorruft/heilt, wird z.B. beim Einsatz in einem Tumorgeschehen nur Erleichterung/Unterdrückung bewerkstelligen, keinesfalls aber Heilung.

Die entsprechenden Rubriken findet man unter dem betreffenden Organ bzw. unter Allgemeines.

Hier wieder einige beliebige Beispiele:

Nieren – Entzündung
Nieren – Krebs
Abdomen – Entzündung – Pankreas
Allgemeines – Tumoren
Allgemeines – Tumoren – zystisch
Allgemeines – Nekrose

Erst das Verständnis der Krankheitsentwicklung ermöglicht eine Rubrikenwahl, die das Krankheitsgeschehen tatsächlich erfasst!

Organheilung nach Burnett

Den Begriff der Organheilung hat Burnett aufgebracht. Seiner Auffassung nach ist eine isolierte Organheilung möglich. Das widerspricht natürlich zunächst den Ansätzen der Homöopathie Hahnemanns, Burnetts Vorgehen hat aber anscheinend Erfolge gebracht. Burnett setzte organotrop ausgerichteter Mittel in niedriger Potenz/Urtinktur ein, um ein Organ zu stärken und zu heilen. Das war aber nicht  sein einziger Therapieansatz. Er ging sehr unkonventionell vor und mischte die Therapieansätze. Zusätzlich setzte er immer miasmatische Mittel und Nosoden in hohen Potenzen ein.

Sein erklärtes Anliegen war es, niemals ein chronisches Organleiden zu übersehen und den Patienten zu behandeln, bis die Ursache aufgehoben ist, bis die Gesundheit soweit irgend möglich wiederhergestellt ist. Burnett hat zahlreiche Schriften hinterlassen, in denen er seine Erfahrungen in der Therapie diverser Organerkrankungen niedergelegt hat.

Locus minoris resistentiae und Urorganaffektion

Unter dem „Locus minoris resistentiae“ versteht man in der Medizin den schwächsten Teil des Körpers, das für Krankheiten anfälligste Organ des Körpers.

Bei Gienow finden wir den Begriff der „Urorganaffektionen“. Eine Urorganaffektion ist eine Organschwäche, die seit der Geburt besteht. In der homöopathischen Therapie stärkt Gienow das betroffene Organ wie Burnett mit entsprechenden Mitteln.

Primärerkrankungen kann man als Ausdruck der Urorganaffektion sehen, als Krankheiten am schwächsten Teil des Körpers, in deren Ausprägung außerdem die Krankheitsdisposition einfließt. Sekundärerkrankungen entstehen dadurch, dass die Primärerkrankung weitere Kreise zieht, andere Organe in Mitleidenschaft zieht, in ihrer Funktion schwächt bzw. verändert.

Die Unterstützung eines im Rahmen der Primärerkrankung oder durch kompensatorische Vorgänge im Rahmen der Sekundärerkrankung geschwächten Organes läßt sich mit niedrigen Potenzen organotropter Mittel realisieren – ohne dass man dabei aber die Gesamtheit der Symptomatik, den Kranken als Individuum und die ganzheitliche Homöopathie aus den Augen verlieren sollte. Sonst wird leicht eine unterdrückende Maßnahme daraus.